Prof. Dr. Olaf Rank Research - Consulting - Education
Bitte etwas mehr Weitblick in der deutschen Politik
Wenn Politik die Attribute „schnell“, „überschaubar“ und (hoffentlich) „hilfreich“ auf sich vereinen soll, dann besteht Anlass zur Sorge. Tatsächlich scheint Regierungshandeln zunehmend kurzfristig orientiert zu sein, die Entwicklung langfristiger Ideen und Konzepte ist immer weniger erkennbar. Allerdings ist es wenig wahrscheinlich, dass sich eine Vielzahl schneller und überschaubarer Maßnahmen zu einem langfristigen Erfolg konsolidieren.
Bereits in der vergangenen Woche wurde über die Pläne der Bundesregierung berichtet, die Mehrwertsteuer für Lebensmittel von sieben auf fünf Prozent zu senken. Nach Ansicht von Bundeskanzler Olaf Scholz „kaue“ Deutschland noch an den Krisen der letzten Jahre, da solle man schnell was „Überschaubares“ machen, das hilft (zitiert aus Spiegel Online vom 11.12.2024). Nun will ich mich in diesem Beitrag gar nicht mit den vielfältigen Krisen beschäftigen, denen sich Deutschland und viele andere Länder derzeit zweifellos entgegengestellt sehen. Ich will auch nicht der Frage nachgehen, ob die Einführung eines reduzierten Mehrwertsteuersatzes für Lebensmittel tatsächlich ein geeignetes Instrument ist, um zumindest einen „überschaubaren“ Lösungsbeitrag für eine der verschiedenen Krisen zu leisten. In diesem Beitrag geht es mir um den immer häufiger verfolgten Ansatz der deutschen Politik, nämlich „schnell“ etwas „Überschaubares“ zu tun, das (hoffentlich) „hilft“.
Die Verbindung von schnell, überschaubar und hilfreich ist für jemanden wie mich, der sich seit vielen Jahren mit Fragen der strategischen Unternehmensführung beschäftigt, doch eine eher ungewöhnliche Kombination von Attributen politischer Maßnahmen. Mich erinnert diese Kombination vor allem an ein magisches Dreieck, bei dem die Kombination von zwei Aspekten stets zu Lasten des dritten geht. In der Strategielehre wird gemeinhin die Auffassung vertreten, es sei gut für Unternehmen, langfristig zu planen. Ausgangspunkt der Strategieentwicklung von Unternehmen ist die Vision des Unternehmens, also die langfristige und mehr oder weniger alles überragende Grundidee, die den Daseinszweck des Unternehmens widerspiegelt. Aus der Vision leiten sich kaskadenartig die strategischen, operativen und taktischen Ziele ab. Im Ergebnis entsteht ein hierarchisches System von Zielen unterschiedlicher Fristigkeiten, mit dessen Hilfe die visionäre Grundidee schrittweise bis zu Tageszielen heruntergebrochen wird.
Ein solches auf einer langfristigen Orientierung aufbauendes Zielsystem gibt dem Unternehmen und seinen Mitarbeitenden Orientierung und ermöglicht die zielgerichtete Allokation von Ressourcen, was letztlich den Unternehmenserfolg steigern sollte. Umgekehrt nimmt mit zunehmender Langfristigkeit der Grad an Unsicherheit zu. Je größer der zukünftige Zeitbezug von Zielen ist, umso weniger wahrscheinlich ist es, dass die den Planungen zugrunde gelegten Rahmenbedingungen stabil bleiben.
Nun könnte man auf die Idee kommen, auf eine langfristige Orientierung doch lieber ganz zu verzichten, weil langfristige Ziele aufgrund eines sich ändernden Umfeldes ohnehin scheitern müssen. Genau diese Haltung scheint mehr und mehr das politische Handeln in Deutschland zu prägen, wofür unterschiedliche Ursachen denkbar wären. So könnte die Politik aufgrund der geringen Umsetzungswahrscheinlichkeit langfristiger Ziele darauf verzichten, solche überhaupt zu formulieren. Weil Wahlperioden nur vier oder fünf Jahre dauern, besteht für zeitlich darüber hinaus formulierte Ziele nicht nur aufgrund eines sich ändernden Umfeldes immer das Problem, das eine mögliche Nachfolgeregierung diese Ziele nicht weiterverfolgen wird. Zudem macht es ein hochdynamisches Umfeld erforderlich, langfristige Ziele kontinuierlich zu monitoren und gegebenenfalls anzupassen, was letztlich angesichts der Vielzahl an Handlungsfeldern zu einer möglichen Überforderung von Entscheidungsträgern führen könnte. Dankbar wäre demnach, dass die Politik so sehr mit der Reaktion auf die die vielfältigen kurzfristigen Veränderungen im Sinne eines Krisenmanagements beschäftigt ist, dass für die Entwicklung langfristiger Ideen und Konzepte schlicht keine Kapazität bleibt.
Das Fehlen langfristiger Zielsetzungen ist für verschiedene Politikfelder zu beobachten, beispielhaft seien die Außenpolitik, die Bildungspolitik und die Wirtschaftspolitik genannt. Als Folge bleibt weitgehend unklar, was die Verantwortlichen hier in den nächsten Jahren erreichen wollen und wo Deutschland beispielsweise im Jahr 2035 stehen soll. Dabei spielt es keine Rolle, welche der genannten Begründungen für eine „Politik auf Sicht“ herangezogen wird, das Problem bleibt bestehen und schadet der langfristigen Entwicklung Deutschlands. Langfristige Ziele werden durch schnelle und überschaubare Handlungen ersetzt. Und so senkt man im Zweifel die Mehrwertsteuer für Lebensmittel geleitet von der Hoffnung, dass eine solche Maßnahme hoffentlich auch einen positiven Effekt erzeugen wird.
Natürlich erfordern geänderte Rahmenbedingungen häufig kurzfristige Entscheidungen und Maßnahmen. Das Wesentliche ist jedoch, dass kurzfristige Entscheidungen die langfristigen Ziele nicht ersetzen, es wäre also falsch, aufgrund möglicher Veränderungen gleich ganz auf eine langfristige Orientierung zu verzichten. Kurzfristige Entscheidungen haben reaktionären Charakter, man reagiert dabei auf Entwicklungen, anstatt Entwicklungen zu gestalten. Und es ist unwahrscheinlich, dass sich die Gesamtheit aller kurzfristigen Reaktionen zu einer „Erfolgsstory“ zusammenfügen. Mit Blick auf die wirtschaftliche Entwicklung sei hier das im Vergleich zu den anderen großen Volkswirtschaften sehr überschaubare Wachstum Deutschlands in den vergangenen Jahren genannt.
Natürlich ist mir bewusst, dass Politik nicht unkritisch mit Unternehmensführung gleichgesetzt werden kann und dass die Komplexität im politischen Feld möglicherweise nochmals ungleich höher ist als in der Unternehmensführung. Ich wage an dieser Stelle dennoch die These, dass die deutsche Politik in Deutschland von Erkenntnissen der Strategielehre profitieren könnte. Erfolgreiche Politik – das gilt für politische Systeme wie für Unternehmen – erfordert beides, einen langfristigen Plan und ein kurzfristiges Kontingenzmanagement. Der Verzicht auf eine der beiden Komponenten wird immer nachteilige Entwicklungen zur Folge haben. Und so besteht die Kunst letztlich darin, langfristige Planung mit kurzfristigen Reaktionsmöglichkeiten zu verknüpfen und die langfristigen Zielsetzungen kontinuierlich einer Überprüfung zu unterziehen und wenn notwendig anzupassen. Zweifellos stellt die zunehmende Fragmentierung der politischen Landschaft eine weitere Schwierigkeit mit Blick auf eine langfristige Ausrichtung dar. Wechselnde Koalitionen aus mehreren Partnern erschweren eine Einigung und steigern die Wahrscheinlichkeit häufig wechselnder Regierungskonstellationen. Aber reicht das als Entschuldigung für eine fehlende langfristige Orientierung deutscher Politik aus? Ich meine nein, Bürger wie Unternehmen dürfen von ihren Regierungen legitimerweise mehr erwarten, als nur eine kurzfristig orientierte und damit reaktive Politik.
In der Hoffnung, dass dieser Appell bei der zukünftigen Bundesregierung Gehör finden möge, ganz gleich, welche Parteien ihr tatsächlich angehören werden: Bitte liebe Regierung, beschäftigt Euch endlich wieder mit der Frage, was der langfristige Plan für Deutschland sein soll, welche grundlegende Ausrichtung die deutsche Außen-, Bildungs-, Umwelt, Wirtschafts- oder Innenpolitik prägen soll, damit sich Bürger wie Unternehmen darauf einstellen können. Die Kommunikation der langfristigen Grundzüge von Politik erleichtert es allen Akteuren, ihre individuellen Handlungen auf die Erreichung der Ziele auszurichten und damit untereinander zu koordinieren.
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